Riegler A. (2008) Wirklichkeit. In: Farzin, S. & Jordan, S. (eds.) Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Reclam: Stuttgart, pp. 322–324.

Wirklichkeit

Als ‘W.’ (engl. reality, actuality; frz. réalité) bezeichnet man in der Soziologie im Anschluß an Peter L. Berger und Thomas Luckmann (The Social Construction of Reality, 1966, dt. 1969) eine Qualität von Phänomenen, die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind. In der Alltagssprache fällt der Begriff mit ‘Realität’ zusammen. ‘W.’ ist damit das Gegenteil zu ‘Möglichkeit’ und bezeichnet die Welt der Dinge, Zustände, Ereignisse und (abstrakter) Qualitäten, wie auch durch Menschen Hergestelltes und Hervorgerufenes.

In der wissenschaftlichen Praxis ist der Begriff ‘W.’ umstritten. Gemäß Bas C. van Fraassens “konstruktivem Empirismus” (The Scientific Image, 1980) sind Theorien Instrumente zur Ordnung von Gegenständen der phänomenalen Welt. Theorien handeln nicht von der W. selbst, sondern von Modellen, deren empirische Dimension strukturgleich mit den Phänomenen ist. Die Akzeptanz einer Theorie hängt demnach von ihrer empirischen Adäquatheit und nicht von ihrer Korrespondenz mit der W. ab. Hier bitte den Standpunkt des Realismus kurz erläutern. In der (angelsächsischen) Philosophie charakterisiert der Realismus die Auffassung, daß die W. unabhängig von unserem Bewußtsein existiert. Sprachphilosophisch wird diese Darstellung durch Michael Dummett (Truth and Other Enigmas, 1978) präzisiert: Jeder Satz über die W. ist entweder wahr oder falsch unabhängig davon, ob der Sprachbenutzer darüber entscheiden kann (“objektiver Wahrheitswert”).

Für Hilary Putnam existieren Gegenstände nicht unabhängig von “Begriffsschemata”, durch deren Einführung wir die Welt erst in Gegenstände aufspalten. Seiner Theorie des “Internen Realismus” (The many Faces of Realism, 1987) zufolge kann es mehrere zulässige Beschreibungen der W. geben, die aufgrund ihrer Kohärenz und Akzeptierbarkeit bewertet werden müssen und nicht aus der für Menschen unerreichbaren God’s eye-Sicht auf die W.

Gesellschaftliche W. ist nach Berger und Luckmann das Ergebnis eines dialektischen Prozesses von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung. Durch Externalisierung schaffen Subjekte ihre eigenen --> Institutionen, indem sie Regeln (--> soziale Norm) aufstellen, die ihr Leben und ihre Interaktionsmuster (--> Interaktion) steuern. Objektivierung entsteht, wenn Menschen soziale Institutionen nicht länger als menschliche Produkte, sondern als unabhängig erfahren. Internalisierung tritt auf, sobald Subjekte sich sozialisieren (--> Sozialisation) und nach den Regeln ihrer jeweiligen Gesellschaft leben, die auf den institutionalen Vereinbarungen aufbauen. Menschen werden somit Produkte der --> Gesellschaft, die sie selbst schaffen: “Die Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.” (Quelle nennen) (Berger und Luckmann, p.65)

Subjektive W. ist der Ausgangspunkt des (radikalen) -->Konstruktivismus. Ernst von Glasersfeld (Wissen, Sprache und Wirklichkeit, 1987) kritisierte die realistische Annahme, daß wir den Wahrheitsgehalt unseres --> Wissens dadurch bestimmen können, indem wir es mit der W. vergleichen. W. sei vielmehr ein --> Netzwerk von Begriffen, die in der bisherigen Erfahrung des Erlebenden wiederholt zur erfolgreichen Überwindung von lebensweltlichen Problemen (--> Lebenswelt) oder zur begrifflichen Assimilation (Eingliederung) von Erfahrungskomplexen gedient haben. Humberto R. Maturanas (Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 1982) systemischer Ansatz (--> System) definiert Realität als ausschließlich durch die Operationen eines Beobachters konstituierten W.-Bereich - eine Überlegung, die in der Soziologie v. a. durch Niklas Luhmanns operativen Konstruktivismus aufgegriffen wurde.

Alexander Riegler